Im Herbst 2022 hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) ein Grundsatzurteil zur systematischen Erfassung sämtlicher Arbeitszeiten gefällt, das für alle Arbeitgeber von Bedeutung ist, auch für Archive, Bibliotheken, Museen u.a. kulturbewahrende Einrichtungen – unabhängig von der Größe des Betriebs! Obwohl Urteil ABR 22/21 ein Paukenschlag ist, hört man bislang wenig über die sich daraus ergebenden Konsequenzen. Woran liegt das? Vielleicht daran, dass man mit dem Neustart nach der Corona-Pandemie befasst ist oder daran, dass viele von den rasant gestiegenen Energiekosten paralysiert sind. Weshalb sollte man die rechtskräftig gültige Zeiterfassung unbedingt kennen und beachten?
Recht der Europäischen Union genießt Anwendungsvorrang gegenüber deutschem Recht
Anfangs wollte ein Betriebsrat aus Nordrhein-Westfalen sich das Initiativrecht für die Einführung eines elektronischen Systems zur Erfassung der Arbeitszeiten erstreiten. Der betreffende Betriebsrat sorgte sich dabei jedoch nicht etwa vor einer möglichen vollständigen Überwachung durch den Arbeitgeber, sondern vielmehr vor einer Überlastung der Beschäftigten. Mit dem Verweis darauf, dass für die EU eine solche Verpflichtung zur Zeiterfassung bereits existiere, hat das Bundesarbeitsgericht mit Urteil vom 13. September 2022 dem reklamierenden Betriebsrat nicht stattgegeben: „Die Arbeitgeberinnen sind schon kraft Gesetzes verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem Beginn und Ende und damit die Dauer der Arbeitszeiten einschließlich der Überstunden in ihrem gemeinsamen Betrieb erfasst werden.“ (Anm. 1)
Grundlage für die Entscheidung des BAG ist Urteil C-55/18 des Europäischen Gerichtshofes (EuGH). Dieser hat am 14. Mai 2019 entschieden, „dass die Mitgliedstaaten Arbeitgeber dazu verpflichten müssen, ein System einzurichten, mit dem die tägliche Arbeitszeit der Mitarbeiter gemessen werden kann. Die Mitgliedstaaten müssen alle erforderlichen Maßnahmen treffen, dass den Arbeitnehmern die täglichen und wöchentlichen Mindestruhezeiten und die Obergrenze für die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit der Arbeitszeitrichtlinie tatsächlich zugutekommen. Nur so könne der durch die EU-Grundrechtecharta und die Arbeitszeitrichtlinie bezweckte Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer tatsächlich einer Kontrolle durch Behörden und Gerichte zugeführt werden.“ (Anm. 2)
Täglich geleistete Arbeit muss messbar sein!
Die Umsetzung der Regelung des EuGH in das deutsche Arbeitszeitgesetz ist nur partiell realisiert worden, denn bislang mussten hierzulande nur Überstunden und Sonntagsarbeit dokumentiert werden. Das aber reicht nun nicht mehr. In BAG-Urteil ABR 22/21 heißt es: „Damit die Richtlinie ihre volle Wirksamkeit entfalten kann, gehört nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu den erforderlichen Maßnahmen auch die Verpflichtung der Arbeitgeber, zum Schutz der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. (…) Das geforderte System darf sich – trotz des vom Gerichtshof verwendeten Begriffs der „Messung“ – dabei nicht darauf beschränken, Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit (einschließlich der Überstunden) lediglich zu „erheben“. Diese Daten müssen vielmehr auch erfasst und damit aufgezeichnet werden. (…) Anderenfalls wären weder die Lage der täglichen Arbeitszeit noch die Einhaltung der täglichen und der wöchentlichen Höchstarbeitszeiten innerhalb des Bezugszeitraums überprüfbar. (…) Auch eine Kontrolle durch die zuständigen Behörden wäre sonst nicht gewährleistet. (…) Die Pflicht zur Einführung beschränkt sich zudem nicht darauf, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmern ein solches System zur freigestellten Nutzung zur Verfügung stellt. (…) Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs muss er hiervon auch tatsächlich Gebrauch machen (…) und es damit verwenden. (…) Die Pflicht der Arbeitgeberinnen, ein System einzuführen, mit dem sämtliche Arbeitszeiten im Gemeinschaftsbetrieb erfasst werden. (…) Arbeitgeberinnen sind nach der Rahmenvorschrift des § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG (….) verpflichtet, ein System einzurichten, mit dem Beginn und Ende und damit die Dauer der Arbeitszeiten einschließlich der Überstunden der Arbeitnehmer in ihrem gemeinsamen Betrieb erfasst werden. Damit besteht für sie eine objektive gesetzliche Handlungspflicht.“ (Anm. 3)
Wie muss die Arbeitszeit erfasst werden?
Laut BAG-Urteil ist „ein `objektives, verlässliches und zugängliches´ System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. Dabei besteht – solange vom Gesetzgeber (noch) keine konkretisierenden Regelungen getroffen wurden – ein Spielraum, in dessen Rahmen u.a. die `Form´ dieses Systems festzulegen ist (…). Bei ihrer Auswahl sind vor allem die Besonderheiten der jeweils betroffenen Tätigkeitsbereiche der Arbeitnehmer und die Eigenheiten des Unternehmens – insbesondere seine Größe – zu berücksichtigen. Wie der Verweis des Gerichtshofs auf die Schlussanträge des Generalanwalts erkennen lässt (…), muss die Arbeitszeiterfassung nicht ausnahmslos und zwingend elektronisch erfolgen. Vielmehr können beispielsweise – je nach Tätigkeit und Unternehmen – Aufzeichnungen in Papierform genügen. Zudem ist es, auch wenn die Einrichtung und das Vorhalten eines solchen Systems dem Arbeitgeber obliegt, nach den unionsrechtlichen Maßgaben nicht ausgeschlossen, die Aufzeichnung der betreffenden Zeiten als solche an die Arbeitnehmer zu delegieren.“ (Anm. 4)
Demnach ist nicht genau festgelegt, wie die Arbeitszeiten im Einzelnen erfasst und dokumentiert werden. Dies kann sowohl elektronisch als auch auf Papier erfolgen, d.h. auch Notizzettel sind zulässig. Allerdings: „Daraus folgt konkret, dass die genaue Uhrzeit des Anfangs und das Ende der Arbeit notiert werden müssen. Eine pauschale Notiz, dass ein Beschäftigter acht Stunden gearbeitet und 30 Minuten Pause gemacht hat, reicht gerade nicht. Wichtig ist, dass der Arbeitgeber die Vorgabe macht, etwa ein Dokument vorbereitet, in das die Beschäftigten ihre Arbeitszeiten schreiben können, und vor allem: Der Arbeitgeber muss kontrollieren, dass die Arbeitszeiten dokumentiert werden. Er darf sich nicht darauf verlassen, dass das schon läuft, wenn er es einmal gesagt hat. Denn entscheidend ist, dass die Einhaltung der täglichen und wöchentlichen Höchstarbeitszeiten überprüfbar ist.“ (Anm. 5)
Gilt die Zeiterfassung für alle?
Grundsätzlich bezieht sich nach Arbeitsschutzgesetz „die Verpflichtung der Arbeitgeberinnen, ein System einzuführen und zu verwenden, mit dem Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeiten einschließlich der Überstunden erfasst werden, (…) auch auf alle in ihrem Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer.“ (Anm. 6) Aber es gibt Abweichungen, die sich aus EuGH-Urteil C-55/18 erklären: „Unter Beachtung der allgemeinen Grundsätze des Schutzes der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer können die Mitgliedstaaten von den Artikeln 3 bis 6, 8 und 16 abweichen, wenn die Arbeitszeit wegen der besonderen Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht gemessen und/oder nicht im Voraus festgelegt wird oder von den Arbeitnehmern selbst festgelegt werden kann, und zwar insbesondere in Bezug auf nachstehende Arbeitnehmer: a) leitende Angestellte oder sonstige Personen mit selbstständiger Entscheidungsbefugnis.“ (Anm. 7) Entsprechend heißt es in Art. 18 des deutschen Arbeitszeitgesetzes (ArbZG): „Dieses Gesetz ist nicht anzuwenden auf leitende Angestellte.“ (Anm. 8) Was das aber konkret bedeutet, wird unter Arbeitsrechtlern hierzulande kontrovers diskutiert.
Viele Kulturbetriebe arbeiten flexibel
Für wissenschaftlich oder kreativ tätige Angestellte – und besonders für jene, die ihrer Arbeit im Homeoffice nachgehen – dürfte es nun komplizierter werden. Zu Konzeptionellem oder zur Arbeit an Texten kommen sie vielfach erst, wenn das Tagesgeschäft ruht, d.h. nach 18 Uhr oder am Wochenende. Wissensarbeiter „können ihre Arbeit nicht so einfach zurücklassen wie ein Fabrikangestellter die seine, wenn er nach Schichtende das Werk verlässt. Die Arbeit im Kopf geht dann oft weiter, und so verschwimmen zwangsläufig auch die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit. In vielen Unternehmen gibt es heute eine Vertrauensarbeitszeit, niemand protokolliert sie so richtig. (…) Das man künftig jeden einzelnen Gedankengang protokollieren müsse, hält der Arbeitsrechtler Wittek für abwegig. `Entscheidend ist, wo der Schwerpunkt der jeweiligen Tätigkeit liegt. Einen Geistesblitz beim Sonntagsspaziergang wird man eher nicht als Arbeitszeit einstufen. Beim abendlichen Lesen und Schreiben beruflicher E-Mails ist das allerdings anders, weil das in dem Moment die volle Aufmerksamkeit erfordert. Späte E-Mails sind jedoch heikel: Die gesetzlich vorgeschriebene elfstündige Ruhezeit ist danach bis zum nächsten Morgen kaum mehr einzuhalten.“ (Anm. 9) Ob das Modell der Vertrauensarbeitszeit in Zukunft haltbar ist, oder ob es für einzelne Berufsfelder Ausnahmen gibt, ist unklar.
Zeiterfassung vs. Vertrauensarbeitszeit?
„Die wahrscheinlich flexibelste Form der Arbeitszeit ist die Vertrauensarbeitszeit. Dabei steht es dem Arbeitnehmer frei seine Arbeitszeit selbst einzuteilen. Solange er seine Aufgaben in einem zeitlich angemessenen Rahmen erledigt, kann er selbst entscheiden wann und wie lange er arbeitet. Denn im Vordergrund steht die Erledigung der vereinbarten Aufgaben. Bei der Vertrauensarbeitszeit war bis zum Urteil des Bundesarbeitsgerichtes grundsätzlich keine Zeiterfassung erforderlich. Nun stellt sich die Frage, was im Lichte des Urteils zur Arbeitszeiterfassung mit dem Konzept der Vertrauensarbeitszeit passiert. Es wird die Forderung vertreten, dass Vertrauensarbeitszeit auch in Zukunft noch möglich sein muss. Grundsätzlich sollte die Arbeitszeiterfassung einer bisher vereinbarten Vertrauensarbeitszeit nicht entgegenstehen. Die Arbeitszeiterfassung an sich erfolgt schließlich immer noch durch den Arbeitnehmer selbst. Der Arbeitgeber muss lediglich das System zur Arbeitszeiterfassung bereitstellen. Aus diesem Blickwinkel scheint eine Vertrauensarbeitszeit auch in Zukunft grundsätzlich möglich zu sein. Voraussetzung ist natürlich weiterhin, dass die Vertrauensarbeitszeit im Arbeitsvertrag vereinbart wurde. In welcher Form eine solche Vertrauensarbeitszeit jedoch im bereitstehenden System eingetragen werden kann, bleibt abzuwarten.“ (Anm. 10) Technische Lösungen für die Erfassung von Wissensarbeit gibt es. „Die Spanne reicht von klassischen Zeiterfassungssystemen wie TimeTac über Apps wie Clockodo bis hin zu Spielereien wie dem Timeular-Würfel, den man auf die mit `Konferenz´, `Telefonieren´, `Nachdenken´ oder anders beschriftete Seite stellt und der die Daten selbst anlegt. Viele einfache Erfassungssysteme sind dabei gar nicht einmal für Angestellte, sondern für Freiberufler entwickelt worden, die auch herausfinden müssen, welchen Aufwand ihre Projekte erfordern.“ (Anm. 11)
Anm. 1: ABR 22/21: Initiativrecht des Betriebsrats – elektronische Zeiterfassung, Beschluss vom 13.09.2022, in: Bundesarbeitsgericht; Quelle: https://www.bundesarbeitsgericht.de/entscheidung/1-abr-22-21/ ; Abfrage: 24.01.2023
Anm. 2: Claudia Knuth, Arbeitszeiterfassung: EuGH schafft neue Pflicht für Unternehmen, in: Haufe, 15.05.2019; Quelle: https://www.haufe.de/personal/arbeitsrecht/pflicht-zur-umfassenden-arbeitszeiterfassung_76_484268.html ; Abfrage: 24.01.2023
Anm. 3: Entscheidungsgründe 22, 23, 42 bzw. 63, ABR 22/21: Initiativrecht des Betriebsrats
Anm. 4: Entscheidungsgrund 65, ABR 22/21: Initiativrecht des Betriebsrats
Anm. 5: Entscheidungsgründe zur Zeiterfassung: Es muss nicht elektronisch sein“, Tanja Podolski im Interview mit Professor Dr. Michael Fuhlrott, in: LTO Legal Tribune Online, 05.12.2022; Quelle: https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/beschluss-entscheidung-gruende-bag-1-abr-22-21-erfassung-arbeitszeit-beginn-dauer-ende/ ; Abfrage: 24.01.2023
Anm. 6: Entscheidungsgrund 55, ABR 22/21: Initiativrecht des Betriebsrats
Anm. 7: C-55/18, Art. 17: Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer), 14.05.2019; Quelle: https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf ;jsessionid=B005C5D9C1AEBFCA3DC39D1F69EA85A1?text=&docid=214043&pageIndex=0&doclang=de&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=602; Abfrage: 24.01.2023
Anm. 8: Arbeitszeitgesetz (ArbZG) § 18 Nichtanwendung des Gesetzes, Quelle: https://www.gesetze-im-internet.de/arbzg/__18.html ; Abfrage: 24.01.2023
Anm. 9: Marcus Rohwetter, Keine Stunde mehr zu viel? Arbeitszeiten müssen künftig konsequenter erfasst werden, fordert der Europäische Gerichtshof. Das hat Folgen, in: Die ZEIT, 23. Mai 2019, S. 25.
Anm. 10: Christian Westermann, Arbeitszeiterfassung – das Ende der Vertrauensarbeitszeit? Arbeitgeberverbände fürchten Verlust der flexiblen Arbeitszeit, in: Rose & Partner, 09.12.2022; Quelle: https://www.rosepartner.de/blog/arbeitszeiterfassung-vertrauensarbeitszeit-flexible-arbeitszeit.html ; Abfrage: 24.01.2023
Anm. 11: Rohwetter, a.a.O.
Dieser Beitrag wurde erstmals publiziert in KulturBetrieb, eins 2023, S. 68-70.