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Muss Corona für alles herhalten?

Deutscher Bühnenverein fordert noch mehr finanzielle Förderung. Ist das zielführend?

Als freischaffende Künstlerinnen und Künstler an hiesigen Bühnen während des Lockdowns 2020/21 nicht weiterbeschäftigt wurden oder für die gleiche Arbeit niedrigere „Coronagagen“ erhalten haben, beklagte die Sopranistin Anna Prohaska „eine ungerechte Verteilung der Mittel, die jetzt in die Kultur gepumpt würden. Einerseits seien da die Intendanten, die sich zurücklehnen könnten: »Die beantragen Kurzarbeit und sanieren sich ihre Betriebe jetzt gesund.« Denn die Subventionen an die (vorstellungsfreien) Häuser fließen weiter – während die Freiberufler, so Prohaska »abgespeist« würden.“ (Anm. 1) Wie sieht es rund ein Jahr später aus?

Orchester sehen sich in stabiler Lage

Selbstbewusst weist der Deutsche Musikrat e.V. darauf hin, dass die hiesige Theater- und Orchesterlandschaft in ihrer Dichte und Vielfalt weltweit einzigartig ist. Für 2018/19 – das letzte Jahr vor Corona – zählt die Statistik insgesamt 142 Staatstheater, Stadttheater und Landesbühnen sowie 128 Orchester (inklusive Theaterorchester). Gegenüber 2017/18 weist die Statistik zweierlei Steigerungen aus. Zum einen ist die Zahl der Mitarbeiter/innen gestiegen: Bei den fest angestellten Personen auf 45.188 (plus 0,8%) und bei den nicht ständig Beschäftigten auf 32.719 (0,7%). Zum anderen sind die Zuschüsse für Theater und Orchester um ca. 3% auf 2,74 Milliarden Euro angehoben worden. (Anm. 2)
Und aktuell? Entspannt teilt Gerald Mertens, Geschäftsführer der Deutschen Orchestervereinigung, mit: „Die Zahl der Berufsorchester und ihrer Mitglieder ist trotz Coronapandemie stabil geblieben. Deutschlandweit gibt es bei den 129 öffentlich finanzierten, regelmäßig spielenden Berufsorchestern derzeit 9.749 ausgewiesene Stellen. Die Lage der Berufsorchester ist nach zwei Jahren Pandemie stabil und insgesamt konsolidiert. Seit 2018 hat es keine neuen Fusionen oder Auflösungen von Orchestern gegeben. Auch für die kommenden Jahre rechnen wir mit einer weiter stabilen Lage. Voraussetzung dafür ist eine verlässliche Finanzierung durch Länder und Kommunen. Wenn die Finanzierung stabil bleibt, können die Orchester Innovationen bei Programm, Personal und Publikum kreativ umsetzen.“ (Anm. 3)

Theater fürchten Sparrunden

Während die Orchester Zuversicht verbreiten, zeigen sich die öffentlichen Theater besorgt. Sie fürchten vor allem finanzielle Kürzungen ihrer Etats. Worauf genau der Deutsche Bühnenverein diese Sorge gründet, bleibt unklar. Von Schließungen einzelner Häuser ist nichts bekannt und Zahlen über verringerte Kulturetats liegen nicht vor. (Anm. 4) Vielmehr das Gegenteil ist der Fall: Ergänzend zu den Hilfen von Ländern und Kommunen stellt der Bund einen Sonderfonds von bis zu 2,5 Milliarden Euro bereit, um das kulturelle Leben beim Neustart zu unterstützen. Davon profitieren auch die Bühnen. Gleichzeitig ist festzustellen, dass im Kulturbetrieb eine Flut von Stellen ausgeschrieben ist, viele davon allerdings befristet. (Anm. 5)
Ohne belegen zu können, ob die zur Verfügung stehenden Mittel ausreichen, um die Krise zu überwinden, fordert Carsten Brosda, Kultursenator in Hamburg und Präsident des Deutschen Bühnenvereins, präventiv, dass der „Sonderfonds für Kultur weiterlaufen müsse, selbst, wenn das Geld, das bisher dafür vorgesehen ist, verbraucht sei.“ (Anm. 6) Man reibt sich die Augen: Während es vielerorts Engpässe an Ressourcen und Personal gibt, um den medizinischen und zivilgesellschaftlichen Herausforderungen der Pandemie zu begegnen, fordert ein Kulturpolitiker pauschal mehr Geld für die Kultur im Allgemeinen und die Theater im Besonderen!

Will man strukturelle Probleme kaschieren?

Offenbar wird der Bühnenverein von der Sorge geplagt, dass sich das Publikum durch Corona dauerhaft abwenden könnte. Die (Teil-)Lockdowns haben teilweise dramatische Rückgänge der Besucherzahlen bewirkt. Manche Museen zählten bis zu 70 Prozent weniger Gäste; bei Kinos und Theatern dürfte die Situation ähnlich sein. Befragungen zeigen, dass die Bürgerinnen und Bürger hierzulande ihr Freizeitverhalten während Corona tatsächlich gravierend geändert haben. 2020/21 haben sie ihre freie Zeit vorwiegend zu Hause verbracht und dabei vor allem Medien wie Internet, TV und PC genutzt. Die ersten aushäusigen Aktivitäten, z.B. Spaziergänge oder Aufenthalte in der Natur, landen abgeschlagen auf den Plätzen 17 und 18. Der Besuch kultureller Einrichtungen taucht in der Statistik gar nicht erst auf. (Anm. 7) Nicht eigens ausgewiesen ist das Freizeitverhalten der älteren Bevölkerung, die allgemein als kulturaffin gilt, sich aber zugleich besonders vor einer Ansteckung durch Covid schützen soll. In dieser spartenübergreifenden schwierigen Situation ruft der Deutsche Bühnenverein auffallend laut nach finanzieller Unterstützung. Liegt das nur an den Verwerfungen, die Corona mit sich gebracht hat? Dazu sollte man wissen: Seit mehr als zehn Jahren stagnieren die Besuchszahlen hiesiger Bühnen bei rund 20,5 Millionen, Tendenz fallend. (Anm. 8) Um ein deutliches und dauerhaftes Absinken der Zuschauerzahlen zu vermeiden und das Interesse des Publikums aufrechtzuerhalten, steigern die Bühnen bei nominal gleich bleibenden, aber faktisch sinkenden finanziellen Mitteln (Teuerungsrate) die Zahl der Produktionen. Das tiefer liegende Problem der Bühnen könnte es demnach sein, dass sie sich mit einer abnehmenden Legitimation in der Politik und der Bevölkerung konfrontiert sehen. Während „viele Intendanten die kulturelle Dürre so still ertragen“, (Anm. 9) will der Bühnenverein offenbar den Eindruck erwecken, ausschließlich von der Sorge um das Wohlergehen der Gesellschaft als Ganzes getrieben zu werden. Carsten Brosda, oberster Bühnen-Lobbyist, der bereits beim ersten Lockdown die Demokratie gefährdet sah, (Anm. 10) verweist auf die „intrinsische Motivation“ des Kulturpublikums und beschwört Kultur als Inbegriff von Freiheit, Solidarität und Vielfalt sowie als Kompass für den sozialen Zusammenhalt: „Kulturelle Angebote werden uns dabei helfen, durch diese Pandemie zu kommen, weil sie uns als Gesellschaft in die Lage versetzen, die richtigen Schlüsse und Entscheidungen zu treffen. Nimmt man diese aber zu schnell aus der Gleichung heraus, dann muss man sich am langen Ende nicht wundern, wenn es gesellschaftlich schwieriger wird.“ (Anm. 11) Claudia Schmitz, seit dem 1. Januar 2022 geschäftsführende Direktorin des Bühnenvereins, beklagt den coronabedingten Verlust gemeinsamer „Erfahrungs- und Reflexionsräume“: „Die Auswirkungen erleben wir gerade: Die Fronten in der Gesellschaft haben sich dramatisch verhärtet und jeder Diskurs ist von tiefen, beinahe unüberwindbaren Gräben geprägt. Unsere Aufgabe ist es jetzt, den gemeinschaftsstiftenden und heilsamen Aspekt der Kultur stärker ins Rampenlicht zu rücken und die Unverzichtbarkeit von Theatern und Orchestern als Bildungsinstitutionen, als Kommunikations- und Emotionsorte für das gesellschaftliche Miteinander hervorzuheben.“ (Anm. 12) Große Worte, die einen zum einen ehrfürchtig davor erschaudern lassen, was Kunst und Kultur so alles leisten sollen. Zum anderen erinnert man sich dunkel, dass es einmal eine Zeit gegeben hat, in der gerade die Künstlerinnen und Künstler dafür eingetreten sind, dass die Kunst vollkommen frei sei – auch frei von der Funktion, die Gesellschaft zu heilen.

Kritische Selbstbefragung? Wir nicht!

Folgt man der Argumentation des Deutschen Bühnenvereins, dürfen die „Grenzen des Wachstums“, die der Club of Rome vor exakt 50 Jahren formuliert hat, für alle möglichen Bereiche des Lebens gelten, aber nicht für die Kultur. Hier muss es fraglos ein ständiges Mehr geben! Ob die Bühnen sich und der Akzeptanz der Kultur im Allgemeinen damit einen Gefallen tun? Es wäre ein Armutszeugnis des Deutschen Bühnenvereins, wenn der Verdacht der Sopranistin Anna Prohaska zuträfe, wonach die Bühnen Corona „nutzen“, um sich zu sanieren.

Berthold Schmitt, Herausgeber der Fachzeitschrift KulturBetrieb

Anm. 1: Peter Kümmel, Wie unständig von Ihnen! Warum freie Bühnenkünstler jetzt in besonders großer Not sind, in: DIE ZEIT, 04.02.2021, S. 46.
Anm. 2: Vgl. Deutscher Bühnenverein, Theaterstatistik Bd. 54, Spielzeit 2018/2019; Quelle: https://www.buehnenverein.de/de/publikationen-und-statistiken/statistiken/theaterstatistik.html ; Abfrage: 29.01.2022
Anm. 3: Lage bei Berufsorchestern trotz Corona stabil, PM vom 25.01.2022; Quelle: https://www.dov.org/presse_meldungen/lage-bei-berufsorchestern-trotz-corona-stabil ; Abfrage: 29.01.2022
Anm. 4: Vgl. Dimo Rieß, Die Angst vor dem On-Off-Modus. Kommt den deutschen Bühnen das Publikum durch die Krise dauerhaft abhanden?, in: Leipziger Volkszeitung, 26.01.2022
Anm. 5: Vgl. Berthold Schmitt, Feuerwerk an Stellenangeboten, in vorliegender Ausgabe von KulturBetrieb.
Anm. 6: Kultur kann uns aus der Coronakrise helfen, Carsten Brosda im Gespräch mit Anke Schaefer, Deutschlandfunk Kultur, 01.01.2022; Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/corona-kultur-100.html ; Abfrage: 29.01.2022
Anm. 7: Vgl. Freizeit-Monitor 2021, BAT-Stiftung für Zukunftsfragen, 15.09.2021; Abfrage: 29.01.2022
Anm. 8: Vgl. Anzahl der Besucher von öffentlich betriebenen Theatern in Deutschland in den Spielzeiten 2008/09 bis 2018/19, in: Statista; Abfrage: 29.01.2022
Anm. 9: Peter Kümmel, Wie unständig von Ihnen!
Anm. 10: Carsten Brosda, Hier geht mehr verloren als eine Art der Freizeitgestaltung. Die coronabedingte Schließung von Kulturorten wird deren Bedeutung nicht gerecht. Wer Kultur mit Freizeit gleichsetzt, zerstört die Fundamente der offenen Gesellschaft, in: Die Zeit online, 07.11.2020; Quelle: https://www.zeit.de/kultur/2020-11/kultur-corona-krise-beschluesse-lockdown-kunst-pandemie-beschraenkung ; Abfrage: 29.01.2022
Anm. 11: Kultur kann uns aus der Coronakrise helfen
Anm. 12: Theater und Orchester sind unverzichtbare Orte des gesellschaftlichen Diskurses, Pressemeldung Deutscher Bühnenverein, Köln 13.01.2022.
Anm. 13: Vgl. Berthold Schmitt, Vor Corona sind alle gleich. Oder doch nicht? Lockdown ist Gradmesser für Solidarität und Selbstwahrnehmung der Kulturbetriebe, in: KulturBetrieb, eins 2021, S. 54-56.

Dieser Beitrag wurde erstmals publiziert in KulturBetrieb, eins 2022, S. 54 f.

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