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Betrachtungsdauer von Kunstwerken

Viel sehen geht oft vor genau sehen

Im Jahr 2016 haben hiesige Museen fast 112 Millionen Besuche gezählt. (Anm. 1) Das ist eine stolze Zahl, die aber nichts darüber aussagt, wie intensiv die Kunst- und Kulturgüter angeschaut werden. Diversen Studien folgend, liegt die Verweildauer vor einzelnen Gemälden im Schnitt bei weniger als einer halben Minute.

Hauptsache viel?

Fachleute stehen vor einem Rätsel: Sie hören von Besuchern, die begeistert von ihren atemberaubenden Begegnungen mit Werken der Bildenden Kunst im Museum schwärmen. Zugleich beobachten sie aber, dass die Menschen im Durchschnitt nur sehr kurz auf die Werke schauen. Isaac Kaplan hat sich mit diesem Phänomen und den Forschungen dazu befasst. (Anm. 2)
Bereits 2001 haben Lisa Smith und Jeffrey Smith im Rahmen einer Studie im Metropolitan Museum of Art in New York festgestellt, dass die durchschnittliche Verweildauer vor einem Kunstwerk bei 27,2 Sekunden lag, der untere Wert bei 17 Sekunden und die längste gemessene Zeit drei Minuten 48 Sekunden – bei einer einzigen Person vor einem Gemälde von Rembrandt. Auch ist die Dauer der Betrachtung nicht abhängig von Geschlecht oder Alter; aber die Größe einer Besuchergruppe scheint wichtig: Je größer die Gruppe, desto länger die Verweildauer. Verwundert fragten sich die Forscher: Wie können Menschen so tief bewegt sein von Kunstwerken, die so nur sie kurz betrachtet haben? Ihr Fazit: „Ein Besuch im Museum ist nicht durch lange Betrachtungen einer ausgewählter Werke charakterisiert, sondern durch kurze Blicke auf eine Menge von Werken. (Anm. 3)
2016 wurde die Studie im Art Institute in Chicago wiederholt, allerdings mit einer größeren Auswahl von Kunstwerken, einem längeren Beobachtungszeitraum und einer gesonderten Messung für das Studium der Beschriftungstafeln. Ergebnis: Die nun gemessenen Zeiten liegen bemerkenswert nahe an den 15 Jahre älteren Werten. Neu ist: Ein hoher Anteil der Besucherinnen und Besucher hat sog. Arties gefertigt, das sind Selfies vor Kunstwerken. Die Forscher kommen zu dem Fazit: Nicht die Verweildauer vor den Werken hat sich verändert, sondern die Art, wie die Zeit genutzt wird. (Anm. 4)

Und die Untersuchungen im Labor?

Zur Untersuchung von Augenbewegungen wird das sog. Eye-Tracking angewendet, das u.a. aus der Wahrnehmungs- und Werbepsychologie bekannt ist. Spezielle Geräte (etwa Brillen) erfassen und zeichnen die Bewegungsabläufe der Augen auf. Hanna Brinkmann und Laura Commare aus Wien haben mit verschiedenen Verfahren gearbeitet, die bei der Analyse von Blickmustern bei der Betrachtung von Kunstwerken angewendet werden. Das Fazit der jeweils zweiminütigen Untersuchungen am Bildschirm im Labor: „Die vorgestellten Visualisierungen bieten als Analyseinstrumente die Chance, Blickmuster, Aufmerksamkeitsstrukturen und Sehkonventionen bei der Rezeption von Kunstwerken aufzudecken, bergen aber auch Gefahren, vor allem hinsichtlich der Interpretation der Ergebnisse.“ (Anm. 5) Auch Regensburger Kunsthistoriker haben sich vor einigen Jahren mit dem Thema befasst und Aufschlussreiches über das Verhältnis von Komposition der Werke und Blickführung herausgefunden. Die Versuchsreihen mit der Eye-Tracking-Brille belegen, „dass es den großen Meistern gelungen ist, den Blick des Betrachters mit ihren Kompositionen zu lenken. (…) Je länger ein Proband das Bild betrachtet, desto aussagekräftiger werde das Ergebnis.“ (Anm. 6)
Indes, die im Labor bzw. unter wissenschaftlicher Leitung durchgeführten Experimente über Minuten, scheinen weit von der Realität tatsächlicher Museumsbesuche entfernt. 2017 hat sich der Bamberger Kunsthistoriker Claus-Christian Carbon erneut mit der Frage der Dauer und Art der Bildbetrachtung befasst. Fazit seiner Studie, die sich auf sechs von 28 Werken einer Gerhard Richter-Ausstellung konzentrierte: Die gemessenen Zeitwerte waren nahe an den Ergebnissen von Smith und Smith, allerdings hat sich auch gezeigt, dass rund 50 Prozent der Besucherinnen und Besucher ein Werk zwei Mal anschauen und zwar zwölf Sekunden länger als beim ersten Mal. Obwohl sich die Betrachtung von Kunst im Labor bzw. im Museum grundlegend unterscheiden, ist Carbon der Ansicht, dass die Verknüpfung beider Untersuchungsmethoden hilfreich ist, um mehr darüber zu erfahren, wie Menschen Kunst wahrnehmen. (Anm. 7)

30 Sekunden. Das scheint nicht lang. Aber vielleicht ist es bei der Betrachtung von Gemälden wie mit dem Anhalten der Luft: Wer nicht trainiert ist, kommt über eine halbe Minute kaum hinaus.

Redaktion

Anm. 1: Vgl. Materialien aus dem Institut für Museumsforschung, Statistische Gesamterhebung an den Museen der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 2016, Nr. 71, Berlin 2017, S. 7.
Anm. 2: Isaac Kaplan, How Long Do People Really Spend Looking at Art in Museums?, in: Artsy Editorial, 07.11.2017; Quelle: https://www.artsy.net/article/artsy-editorial-long-people-spend-art-museums/amp; Abfrage: 03.03.2018
Anm. 3: Jeffrey K. Smith und Lisa F. Smith, Spending Time on Art, New York 2001; Quelle Abstract: http://journals.sagepub.com/doi/abs/10.2190/5MQM-59JH-X21R-JN5J?journalCode=arta; Abfrage: 03.03.2018
Anm. 4: Jeffrey K. Smith, Lisa F. Smith und Pablo P. L. Tinio, Time spent viewing art and reading labels, in: Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts, Vol 11 (1), Feb 2017, S. 77-85; Quelle Abstract: http://psycnet.apa.org/record/2016-10247-001; Abfrage: 03.03.2018
Anm. 5: Eye-Tracking als Analysemethode, in: Blick_folgen. Zur Visualisierung von Augenbewegungen bei der Kunstbetrachtung, in: Special Issue »Die Kunst der Rezeption/The Art of Reception«, 2015, S. 395 ff; Quelle: http://www.visualpast.de/archive/pdf/vp2015_0389.pdf; Abfrage: 03.03.2018. Für den vorsichtigen Umgang mit Messergebnissen spricht, dass österreichische Forscher herausgefunden haben wollen, dass Japaner und Europäer sehr anders auf Gemälde schauen. Vgl., Österreicher und Japaner betrachten Gemälde anders, in: Salzburg 24, 30.05.2016; Quelle: http://www.salzburg24.at/oesterreicher-und-japaner-betrachten-gemaelde-anders-2/apa-s24_1430032778; Abfrage: 03.03.2018
Anm. 6: Anna Höber, Weg des Blicks über Altdorfers Bilder. Mit der Eye-Tracking-Brille visualisieren Kunsthistoriker die Bewegungen des Auges. Die Regensburger können sie ausprobieren, in: Mittelbayerische Zeitung Regensburg, 11.09.2015, Quelle: https://www.mittelbayerische.de/region/regensburg-stadt-nachrichten/weg-des-blicks-ueber-altdorfers-bilder-21179-art1280918.html; Abfrage: 03.03.2018
Anm. 7: Art Perception in the Museum: How We Spend Time and Space in Art Exhibitions, zitiert nach Kaplan, 2017. Übersetzungen aus dem Englischen: Redaktion.

Dieser Beitrag wurde erstmals publiziert in KulturBetrieb, eins 2018, S. 8 f.