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Was ist das ... Arctic World Archive?

Verfall, Klimawandel, Naturkatastrophe, Diebstahl

Verfall, Klimawandel, Naturkatastrophe, Diebstahl, Raub, Vandalismus, Veruntreuung, Unfall, Krieg, Hacker … Die Liste der Gefahren, denen Kunst- und Kulturgüter ausgesetzt sind oder sein können, ist lang und kann beängstigen. Was liegt näher, als die Schätze in einen Tresor zu packen, wo sie keinen Schwankungen von Licht, Temperatur und Luftfeuchte ausgesetzt sind und sie sicher und ohne Erschütterungen liegen. Das wäre der Traum des Restaurators und zugleich der Albtraum des Kurators. Denn: Wem nützt `ewige´ Kultur, wenn kaum jemand sie jemals erleben kann? Eine Art Seitentür aus diesem Dilemma bieten digitale Daten, die auf analogem Film gespeichert und an einem entlegenen Ort aufbewahrt werden. Das leistet zum Beispiel das Arctic World Archive (AWA).

Was der Welternährung dient, kann dem Kulturgut nicht schaden

Die Gegend, um die es hier geht, liegt jenseits des nördlichen Polarkreises und darf als „entlegen“ bezeichnet werden. Svalbard (deutsch „Kühle Küste) ist eine zu Norwegen gehörende Inselgruppe im Nordatlantik und Arktischen Ozean, die wir als Spitzbergen kennen. Größte Siedlung und Verwaltungszentrum ist Longyearbyen, einer der nördlichsten Orte der Erde. Seit jüngerer Zeit gilt Spitzbergen als „größtes Labor der Welt“, was zum einen den Startplatz für Raketen der Arktisforschung meint, sowie das Svalbard Global Seed Vault.
Der 2008 eröffnete `Weltweite Saatgut-Tresor auf Svalbard´ ist ein Projekt des Welttreuhandfonds für Kulturpflanzenvielfalt (englisch Global Crop Diversity Trust, GCDT). Mit mehr als 930.000 eingelagerten Samen aus aller Welt ist der Global Seed Vault der größte Saatgutspeicher von weltweit 1.400 Aufbewahrungsanlagen für Saatgut, und der einzige ohne Forschungsauftrag. Seine wichtigste Aufgabe ist die Lagerung einer Mindestanzahl von Saatkörnern der zur Ernährung wichtigen Lebensmittel wie Reis, Mais, Weizen, Kartoffeln, Früchte, Nüsse und Wurzelgemüse, die in einem Katastrophenfall ausgeliefert und nachgezüchtet werden können. Die Lieferländer zahlen für die Speicherung nichts, die entstehenden Kosten trägt der norwegische Staat.
Der Seed Vault reicht 120 Meter in eine alte Kohlegrube hinein, in deren Gängen die Luft auf ein konstantes Niveau von −18 Grad Celsius abgekühlt ist. Bei der Entscheidung für den Standort auf Svalbard / Spitzbergen wurden verschiedene Kriterien geprüft: So darf es im Umkreis der Anlage keine tektonischen Aktivitäten geben, die Infrastruktur muss gut ausgebaut und die schnelle Erreichbarkeit muss gewährleistet sein. Zudem muss eine über das ganze Jahr anhaltende Frostumgebung existieren und ein leistungsfähiges örtliches Kraftwerk muss die Energieversorgung zuverlässig sichern. (vgl. Wikipedia) Zudem ist die Inselgruppe gemäß dem Spitzbergenvertrag eine demilitarisierte Zone, d.h. nur zivile Nutzung ist erlaubt. Aufgrund seiner abgelegenen Position tief im Permafrost bezeichnen manche den Seed Vault auch als Doomsday Vault – also als jenen Ort, der selbst dann noch sicher ist, wenn der Rest der Welt zugrunde gegangen ist.

AWA – Permafrost sichert Daten über Jahrhunderte

Die Saatgut-Samen werden im Seed Vault „aufbewahrt, um die genetische Vielfalt der Pflanzen zu garantieren. Und um eine Sicherheitskopie zu haben. Für den Fall der Fälle. Was für Saatgut geht, soll auch für Daten funktionieren. Das norwegische Unternehmen Piql hat zusammen mit der norwegischen Regierung gerade einen zweiten Permafrost-Tresor in Spitzbergen erschaffen. In einem Schacht einer ehemaligen Kohlemine, der nahe des Global Seed Vaults liegt. Hier, im Arctic World Archive, sollen Kunden Sicherheitskopien ihrer kostbarsten Daten einlagern können – geschützt vor Hackern, Manipulationen, Kriegen und Naturkatastrophen.“ (Anm. 1) Das Erstaunliche: Die Daten werden nicht etwa in digitaler Form eingelagert, sondern – ganz old fashioned – auf analogem Film!
Das in Drammen / Norwegen ansässige Unternehmen Piql AS, dessen Name vom Wort `pickle´ (deutsch Essiggurke) abgeleitet ist, arbeitet seit 2002 auch für die US-Filmindustrie. Besonders in Hollywood sucht man nach Lösungen für das sog. Digital Dilemma, also der vom Speichermedium abhängigen langfristigen Verfügbarkeit digitaler Daten. Da Piql aufgrund seiner langjährigen Erfahrungen um die einzigartige Langlebigkeit und um die hohe Sicherheit von Film wusste, entwickelte das Unternehmen das Konzept „data-on-film“. Neben Kopien physischer Gegenstände dokumentiert das AWA auch Software. Die Daten sollen 500 bis 1.000 Jahre zugänglich und nutzbar bleiben.
Inzwischen lagern Kultureinrichtungen aus aller Welt ihre Daten im AWA ein. Erster Kunde war das Brasilianische Nationalarchiv. Vertreter des Heiligen Stuhls haben Manuskripte und Zeichnungen aus dem Mittelalter auf Filmrollen zur Lagerung abgegeben, darunter Sandro Botticellis Illustrationen zu Dantes Göttlicher Komödie. Neben Kopien der Gutenberg-Bibel, des Ambraser Heldenbuches und Aufnahmen des Kunstwerkes Der Schrei von Edvard Munch werden zudem Dokumente aus Russland, Südkorea, China, Italien, Mexiko und Spanien im Arctic World Archive gespeichert. (vgl. Wikipedia)

Analoger Film schlägt digitalen Speicher

Hinsichtlich der Bewahrung ihrer Bestände denken Archive, Bibliotheken, Museen und andere Kultureinrichtungen theoretisch in der Kategorie „für die Ewigkeit“. In der Praxis stößt die sog. Langzeitarchivierung (LZA) jedoch an Grenzen. Während Stein, Pergament oder Papier bei guter Lagerung viele hundert Jahre haltbar und nutzbar sind, gilt dies aufgrund des Digitalen Dilemmas nicht für neue Speichermedien. Hier ist LZA nicht zu verwechseln mit einer Art Garantieerklärung über fünf oder fünfzig Jahre, sondern es geht vielmehr um die verantwortliche Entwicklung von Strategien, die den beständigen, vom Informationsmarkt verursachten Wandel bewältigen können.
Für die Aufbewahrung im AWA verspricht das Unternehmen Piql AS aufgrund seiner Technologie: „Storing your data with Piql means your information remains authentic and permanent. Piql´s technology has been designed to be future-proof, lasting centuries and ensuring that data is always recoverable. As an offline, immutable and permanent medium, your data is safe from all online threats and kept in a secure vault.“ Alles in allem: „Data stays alive for centuries, with guaranteed accessibility.“ (Anm. 2)
Dazu Piql-Projektleiter Rune Bjerkestrand: „Festplatten, CDs, Flashspeicher – all diese Speichermedien haben eine vergleichsweise kurze Lebensdauer. Zudem werde Hardware immer schneller obsolet, weshalb Daten immer wieder neu kopiert werden müssen. Das koste Zeit, Geld und sei anfällig für Fehler. Die mutmaßliche Lösung: Einmal im Permafrost eingelagert und bis zu 1.000 Jahren Ruhe. Theoretisch. (…) Die Kunden schicken sämtliche Daten, seien es Dokumente, Fotos oder Videos auf einem Speichermedium ihrer Wahl oder digital an Piql. Dort werden sie zunächst in allgemein zugängliche Formate umgewandelt. Ein Word-Dokument etwa, was ein von Microsoft entwickeltes, proprietäres Format ist, wird in den mittlerweile frei verfügbaren Standard PDF umgewandelt, erklärt Bjerkestrand. Durch die Verwendung von Open-Source-Formaten soll die Gefahr minimiert werden, dass ein Dateiformat eines Tages verschwindet. Anschließend werden die Daten auf eine Filmrolle übertragen. Man kann sich das vorstellen wie hochauflösende QR-Codes, die auf einen optischen Film geschrieben werden. Alternativ ist es auch möglich, die Daten direkt lesbar auf den Film zu übertragen: Fotos, Texte oder Videos könnten dann wie auf klassischen Filmrollen mit bloßem Auge betrachtet werden. Effizienter ist es allerdings, die Daten digital auf den analogen Film zu speichern. Rund 120 Gigabyte soll eine Filmrolle, die in einem gesicherten und feuerfesten Container gelagert wird, dann enthalten können. Durch weitere Entwicklungen könnte die Kapazität noch erhöht werden.
Aber wieso überhaupt analoger Film? Ist das nicht ein veraltetes Medium? „Film gibt es seit gut 140 Jahren. Filmrollen, die seit den vierziger Jahren genutzt werden haben sich erstaunlich gut gehalten“, sagt Bjerkestrand. Sein Unternehmen habe in den vergangenen Jahren mehrere Haltbarkeitsstudien durchgeführt. Dabei haben sie die Filme künstlich altern lassen und anschließend versucht, die Daten zu lesen. Je kälter die Lagerbedingungen, desto besser waren die Ergebnisse. So wie der Permafrost auf Spitzbergen die Haltbarkeit von Samen verlängert, verlängert er ihn auch von Filmrollen. 500 Jahre Speicherzeit verspricht Piql – dank der Bedingungen auf Spitzbergen könnten es sogar bis zu 1.000 Jahren sein, glaubt Bjerkestrand.“ (Anm. 3) Und wie sieht es mit den Kosten aus? Das Arctic World Archive wird gemeinsam betrieben von der privaten Piql AS und dem staatlichen Bergbauunternehmen Store Norske Spitsbergen Kulkompani. Die Preise der Einlagerung der Daten werden nach verschiedenen Faktoren berechnet, darunter Größe der Dateien, Anzahl der Nutzer sowie diverse Serviceleistungen. Das Einsteigerpaket „Icecube“ kostet 19 Euro pro Monat, den „Iceberg“ gibt es für 39 Euro und den „Glacier“ für monatlich 129 Euro. Rechnungslegung erfolgt jährlich. (Anm. 4)

AWA setzt auf Permafrost, Deutschland auf Granit

Auch hierzulande setzt man mit Blick auf die Langzeitarchivierung auf die Verfilmung. Der Zentrale Bergungsort der Bundesrepublik Deutschland ist ein stillgelegter Versorgungsstollen, der 1903 bei Freiburg / Breisgau aufgefahren wurde. Die Anlage befindet sich komplett in Granit und Gneis, im Lagerbereich beträgt die Überdeckung mindestens 200 m Gestein. Die Räume sind nicht klimatisiert, haben aber wegen ihrer Lage eine Temperatur von 10 °C und eine relative Luftfeuchte von 75%.
Seit 1975 dient der Barbarastollen zur Lagerung von fotografisch archivierten Dokumenten mit hoher national- oder kulturhistorischer Bedeutung. In Europa ist er das größte Archiv zur Langzeitarchivierung. Seit 2004 ist Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) unter anderem für die Maßnahmen zur Sicherung von Kulturgut zuständig. Das BBK nutzt den Barbarastollen weiterhin als sicheren Aufbewahrungsort für die auf Filmrollen kopierten Archivalien Deutschlands. Der Stollen unterliegt seit dem 24. April 1978 als einziges Objekt in Deutschland dem Sonderschutz nach den Regeln der Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten und ist somit in das Internationale Register der Objekte unter Sonderschutz bei der UNESCO in Paris eingetragen. Der Sonderstatus dieses Ortes wird durch das dreifach angeordnete blauweiße Kulturgutschutzzeichen am Stolleneingang kenntlich gemacht. (vgl. Wikipedia)
Die Filme lagern in mehr als 2.000 luftdicht verschlossenen Edelstahlbehältern. Während zunächst in schwarz-weiß auf 35-Millimeter-Polyester-Dünnfilm archiviert wurde, wird seit 2010 auch Farbfilm gelagert. Grundlage dafür ist die am Fraunhofer-Institut für Physikalische Messtechnik in Freiburg entwickelte Archivierungs-Technologie „ArchiveLaser“. Dazu wird mit einem Laser der langzeitstabile Microfilm ILFOCHROME® MICROGRAPHIC belichtet. Dieser Film ist 250-mal unempfindlicher als normale Fotofilme und hat eine Auflösung, mit der sich 25 DIN A4 Seiten auf einem Bild von 45 x 32 mm belichten lassen. Die Pixelgröße beträgt 3 Mikrometer; somit beträgt die Anzahl der Bildpunkte 10.000 x 15.000. Dieser Film besteht im Gegensatz zum Diafilm aus reinen Azofarbstoffen ohne Silber und hat wie schwarz-weiße Archivfilme einen Polyesterträger. (vgl. Wikipedia)

Berthold Schmitt, Herausgeber der Fachzeitschrift KulturBetrieb

Anm. 1: Eike Kühl, Die Apokalypse kann kommen. Auf Spitzbergen wird bereits Saatgut archiviert. Nun sollen Daten hinzukommen: In einer alten Mine sollen sie rund 500 Jahre lang geschützt sein – gespeichert auf Film, in: DIE ZEIT Digital, 19.04.2017; Quelle: https://www.zeit.de/digital/datenschutz/2017-04/arctic-world-archive-spitzbergen-datenspeicherung-piql ; Abfrage: 07.07.2024
Anm. 2: Piql, Award-winning technology; Quelle: piql.com/about/technology/; Abfrage: 08.07.2024
Anm. 3: Eike Kühl, Die Apokalypse kann kommen, a.a.O.
Anm. 4: AWA Membership & Storage Pricing; Quelle: arcticworldarchive.org/pricing/; Abfrage: 08.07.2024

Dieser Beitrag wurde erstmals publiziert in KulturBetrieb zwei 2024, S. 38-40