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Wir müssen (leider) draußen bleiben

IPM – Integrated Pest Management zum Schutz vor Schädlingsbefall in den Sammlungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz

Anhäufungen organischer Materie in musealen Sammlungen sind ständig gefährdet, biogene Schädigungen zu erfahren. Dieser Gefahr zu begegnen, wurde bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz 2009 als ein Grundpfeiler der präventiven Konservierung ein Programm des integrierten Schädlingsmanagements (aus dem Englischen auch IPM, Integrated Pest Management) aufgelegt, das die 19 Staatlichen Museen zu Berlin und alle weiteren Einrichtungen der Stiftung einbezieht. Am Rathgen-Forschungslabor arbeitet ein Biologe/Entomologe eigens für die Umsetzung und ständige Weiterentwicklung des IPM, was in der deutschen Museumslandschaft einmalig ist.

Destruenten unterscheiden nicht

Insbesondere Insekten und Pilze können über eine Vielzahl ökologischer Anpassungen das Material von Sammlungsobjekten degradieren, mit Substanzverlust bis hin zur irreversiblen Zerstörung. Von den geschätzt mehr als eine Million Insektenarten weltweit, ist nur eine überschaubare Anzahl von unter 100 Arten als Sammlungsschädlinge von Bedeutung. Diese aber sind wahre Kulturfolger und Kosmopoliten. Als synanthrope Arten weltweit verbreitet, kommen sie auch in Regionen vor, in denen sie natürlicherweise nicht beheimatet sind. Durch Vorratswirtschaft und internationalen Warenhandel finden sie unter den besonderen Bedingungen menschlicher Siedlungen fast überall geeignete Entwicklungsbedingungen und geschützte Habitate. Obwohl beispielsweise die Kleidermotte Tineola bisselliella ursprünglich in Mitteleuropa nicht heimisch war, kommt sie hier doch zunehmend häufiger vor. Gegenwärtig gilt sie als wirtschaftlich bedeutendster Textilschädling weltweit. Das Buch „Silent Spring“ (Der stille Frühling) von Rahel Carson, 1962 erschienen und mitunter als eines der wichtigsten Bücher der 20. Jahrhunderts angesehen, wurde zu einem Ausgangspunkt der Umweltbewegung und führte zunächst in den USA zur Entwicklung des IPM-Konzepts, das sich zum Ziel setzte, dem zunehmenden Einsatz von chemischen Pestiziden in der Landwirtschaft und den daraus resultierenden Umweltproblemen ein alternatives Konzept der Schädlingskontrolle entgegenzustellen. Es versucht in ganzheitlicher Weise alle relevanten Aspekte zu betrachten, dem Schädlingsbefall vorzubeugen, ihn zu begrenzen und ihm wo nötig entschieden entgegenzuwirken. Hierbei werden komplexe Zusammenhänge aus der Schädlingsbiologie und Ökologie einbezogen. Die unterschiedlich gewichteten Handlungsbereiche – Prävention – Monitoring – Identifizierung und Begrenzung – Behandlung und Entwesung – gliedern das integrierte Schädlingsmanagement. Es sind die Erfolgsmodelle der Natur, die seit Millionen von Jahren ihrer ökologischen Rolle entsprechen und abgestorbenes, organisches Material dem natürlichen Stoffkreislauf zurückführen. Was zur Photosynthese befähigte Pflanzen an Substanz aufbauen, dann einer Reihe von Konsumenten lebensnotwendige Nahrung bietet, wird für eine erneute Mineralisierung der Stoffe durch die Destruenten abgebaut. Diese Spezialisten aber, die wir als Schädlinge bezeichnen, differenzieren nicht zwischen einer barocken Holzskulptur und einem Baumstubben oder einem verlassenen Vogelnest und indianischem Kopfschmuck.

Prävention hat höchste Priorität

Eine dichte Gebäudehülle mit sicher schließenden Fenstern und Türen ist unerlässlich, insbesondere wenn durch Vegetation in der Gebäudeumgebung oder unmittelbar an Fassaden und auf Dächern Habitate bestehen, die das Vorkommen potentieller Schädlinge begünstigen und fördern. Zudem ist es wichtig, die raumklimatischen Bedingungen innerhalb des Gebäudes zu überwachen und wenn möglich, zu Ungunsten einer Entwicklung von Schädlingen anzupassen und einzustellen. Auch in mit Raumlufttechnik (RLT) geregelten Depots können mikroklimatische Abweichungen entstehen, wenn die Luftzirkulation eingeschränkt ist, z.B. durch verstellte Wandbereiche. Dabei können sich stellenweise von den Steuerungsmesswerten stark abweichende Feuchtigkeiten einstellen. Bei einer Raumtemperatur von unter 12 Grad Celsius können besonders gefährdete Objektmaterialien tierischen Ursprungs wie Felle, Pergament und Federbälge sicher verwahrt werden. Unter diesen Bedingungen ist die Entwicklung von Schadinsekten unterbunden. Um die Einschleppung von Schaderregern zu verhindern, sind alle möglichen Importwege in Betracht zu ziehen. Mit Zimmerpflanzen und Blumensträußen, auch mit einem Nadelbaum zur Weihnachtszeit, können Insekten in ein Museumsgebäude gelangen. Verpackungs- und Transportmaterialien sollten getrennt von musealen Sammlungen in separaten Räumen untergebracht sein. Diese Materialien, die wiederholt verwendet werden, tragen ein erhöhtes Risiko der Einschleppung von Schädlingen. Wahlweise können Verpackungen aus weniger anfälligen Materialien Verwendung finden, so z.B. Packdecken ohne Wollanteil oder Transportpaletten aus Kunststoff. Essen und Trinken sind für Museumsangestellte wie für Besucher der Ausstellungen natürliche Bedürfnisse, wofür – auch aus ökonomischen Gründen – häufig gastronomische Einrichtungen in Museumsgebäuden betrieben werden. Davon können zusätzliche Anreize auf Schadorganismen wirken, was einen folgerichtigen Umgang insbesondere mit Abfällen abverlangt. In den Sammlungsdepots selbst sollte Essen und Trinken grundsätzlich nicht gestattet werden. Vermehrter Staub, Schmutz oder Ansammlungen abgestorbener Insekten stehen oft in ursächlichem Zusammenhang mit einem aktiven Schädlingsvorkommen, zu dessen Prävention ausreichende Reinigungsleistungen im Museumsgebäude wichtig sind. Auch vermeintlich unbedeutende Orte wie beispielsweise Lüftungsschächte und Versorgungskanäle sind in Inspektionsturnus und Reinigungsplan einzubeziehen. Ein- und Auslassöffnungen lassen sich gegen eindringende Insekten mit Gaze sichern, deren Maschengröße 0,5 mm nicht überschreiten darf. Für Maßnahmen der Quarantäne sind Zeit und Stellflächen meist nicht in genügendem Ausmaß vorhanden. Diese Umstände machen prophylaktische Behandlungen gegen Schädlingsbefall erforderlich, was alle Neuerwerbungen und Objekte aus dem Leihverkehr betrifft, auch aus museumsinternen Ausstellungen vor einer Rückführung an den ständigen Standort im Depot.

Kontrolle ist besser

Für den Erfolg im IPM sind rechtzeitige Informationen über drohenden Schädlingsbefall und ein ständiges Überwachen der Situation sehr wichtig. Beim Monitoring für Sammlungsschädlinge werden systematisch und flächendeckend in allen relevanten Bereichen Klebefallen für Insekten und artspezifische Pheromonfallen für z.B. Kleidermotten aufgestellt. Mit UV-Lichtfallen lassen sich zusätzlich flugaktive Stadien detektieren. Diese Fallen haben keine nachhaltig bekämpfende Wirkung, liefern aber wichtige Daten zur Populationsdynamik und zum räumlichen wie zeitlichen Zusammenhang eines Befalls. Oft lässt sich daraus ein Befallshergang rekonstruieren. Damit dieses Frühwarnsystem bestmöglich wirken kann, sind regelmäßige Inspektionen der Klebefallen erforderlich. In vierteljährlichem Turnus lassen sich saisonale Aspekte erfassen. Stark verstaubte oder mit vielen Totinsekten befrachtete Fallen müssen ausgetauscht werden, da die Klebwirkung beeinträchtigt ist und abgestorbene Insekten eine Nahrungsressource für einige Schädlingsarten bieten. Zur Optimierung des Monitorings kann es sinnvoll sein, verschiedene Risikozonen in Abhängigkeit von Objektgruppen oder der Anfälligkeit bestimmter Materialien in den Sammlungen auszuweisen.

Wenn der Wurm drin ist

Meist lässt sich eine sichere Bestimmung der Schädlingsart nur über das adulte Stadium der Insekten durchführen. In der Taxonomie führen morphologische Merkmale der Larven oft nicht über eine Familienzugehörigkeit hinaus. Die Fänge in den Klebefallen bestehen häufig mehrheitlich aus den mobileren Imagines, deren hauptsächliche Funktion der Vermehrung und Ausbreitung dient. Bedeutende Objektschädigungen hingegen werden überwiegend durch die Fraßaktivität der Larven verursacht. In vielen Fällen sind nur Fraßspuren erkennbar, z.B. wenn die eigentlichen Verursacher lokal im Substrat leben. Dann ist ein Identifizieren der Schädlingsart oft nur über Referenzmaterialien im Sinne einer zerstörungsfreien Prüfung möglich. Mit Fachkenntnissen aus der Schädlingsbiologie lassen sich daraus geeignete und effiziente Gegenmaßnahmen ableiten.
Ohne den Einsatz chemischer Bekämpfungsmittel wirken prophylaktische und kurative Behandlungen bei aktivem Befall nur für den Moment. Eine Langzeitprävention mit anhaltender Schutzwirkung ist nicht gegeben. Viele der in der Vergangenheit verwendeten bioziden Substanzen zur präventiven Konservierung sind aus heutiger Sicht abzulehnen, da ihre Rückstände eine Gesundheitsgefährdung für Museumsangestellte und Ausstellungsbesucher darstellen können sowie mitunter Veränderungen der Objekte und ihrer Materialien bewirken können. Darüber hinaus besitzen Insekten aufgrund ihrer großen Nachkommenzahl und oft schnellen Generationsfolge die Fähigkeit zur Ausbildung resistenter Stämme. Im IPM erfolgt ein Pestizideinsatz grundsätzlich nur sehr gezielt und reduziert in besonderen Notsituationen, wenn keine anderen Bekämpfungsmöglichkeiten identifiziert werden können. Als pestizidfreie Methoden eignen sich in den allermeisten Fällen mechanische und thermische Bekämpfungsverfahren. Die Wahl der Methode muss in Abhängigkeit von der Verträglichkeit der Objektmaterialien getroffen werden, was immer gemeinsam mit den verantwortlichen Restauratoren geschieht.
Eine zuverlässige Entwesung ermöglicht z.B. die Gefrierbehandlung bei -30 °C über eine Dauer von sechs Tagen. Besonders schonend für alle Materialarten ist eine Anoxia-Behandlung. Unter Sauerstoffentzug per Stickstoffanreicherung werden in Abhängigkeit von der Umgebungstemperatur und -feuchte innerhalb von zwei bis vier Wochen alle Schädlingsarten zuverlässig abgetötet. Anoxische Bedingungen können durch den Einsatz von Sauerstoffabsorbern, Stickstoffgeneratoren oder die Verwendung von Stickstoff aus Druckgasflaschen hergestellt werden. Die zu behandelnden Objekte müssen hierbei in gasdichten Räumen sein, damit eine Atmosphäre mit nicht mehr als 0,2 % Sauerstoff anhaltend besteht. Zur Erfolgskontrolle ist es ratsam, Proben mit lebenden Referenzorganismen mitzubehandeln. Nicht ausschließlich, aber als jeweils ergänzende Maßnahme hat sich der Einsatz von natürlichen Antagonisten als Nützlinge erwiesen. Dafür stehen mehr oder weniger wirtsspezifische Parasitoide und Prädatoren zur Verfügung, die periodisch freigelassen und je nach Art unterschiedliche Entwicklungsstadien dezimieren. Verschiedene Wespenarten und Raubwanzen können zur Schädlingsbekämpfung aus Laborkulturen bezogen werden. Zur Störung der Partnerfindung und damit der Reproduktion kann zusätzlich eine Pheromon-Verwirrtechnik Anwendung finden. Mit dem Ziel der Desorientierung der Schädlingsmännchen werden hierbei synthetische Sexualpheromone massenhaft ausgebracht und überdecken die natürlich vorkommenden Lockstoffe der Weibchen.
Ein IPM kann nur erfolgreich sein, wenn es langfristig angelegt und kontinuierlich durchgeführt wird. Dafür ist es auch erforderlich, allgemeine und einrichtungsspezifische Richtlinien zu formulieren. Diese Richtlinien sollten regelmäßig überprüft und angepasst werden. Präventionsarbeit gegen Schädlingsbefall ist als Teamwork aufzufassen, bei der gemeinsam mit einem IPM-Koordinator und nach genügender Information und Weiterbildung alle Mitarbeiter von der Leitungsebene bis zu den Reinigungskräften in einer Sammlung einbezogen sind und Verantwortung tragen. Nur so kann es zu dem Grundpfeiler in der präventiven Konservierung werden, der für die Erhaltung unseres kulturellen Erbes belastbar und zuverlässig tragfähig sein muss. Als externe Dienstleistungen bietet das Rathgen-Forschungslabor IPM-Fachberatungen an, darunter die Bestimmung von Schädlingsarten und Befallsgutachten. Darüber hinaus können individuell IPM-Konzepte mit Schädlingsmonitoring erarbeitet werden.

Dr. habil. Ina Reiche und Bill Landsberger
Rathgen-Forschungslabor
Staatliches Museen zu Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz
www.smb.museum/rf

Anm. 1: Nach der Definition, die durch ICOM-CC bei der 15. Dreijahreskonferenz in Neu-Delhi im September 2008 verabschiedet wurde, sind unter „präventiver Konservierung „alle indirekten Maßnahmen und Aktionen zu verstehen, die darauf abzielen, Zerstörung und Verlust zu vermeiden oder das betreffende Risiko zu minimieren. Diese Maßnahmen werden im Kontext und im Umfeld von Objekten oder Objektgruppen durchgeführt. Sie greifen nicht in Material und Struktur der Objekte ein und verändern auch nicht deren Aussehen (http://www.icom-cc.org/242/about-icom-cc/what-is-conservation/).

Dieser Beitrag wurde erstmals publiziert in "KulturBetrieb. Magazin für innovative und wirtschaftliche Lösungen in Museen, Bibliotheken und Archiven", vier 2014, S. 36-39.

Zum Magazin: http://www.kulturbetrieb-magazin.de/fileadmin/user_upload/kulturbetrieb-magazin/magazin/KulturBetrieb-2014-Ausgabe-4-Oktober.pdf