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Wie umgehen mit der sog. „Cancel Culture“?

Netzwerk tritt für freiheitliches Wissenschaftsklima ein

Themen wie Rassismus, Kolonialismus, Sexismus oder Political Correctness begleiten seit einiger Zeit die Debatte über das Selbstverständnis unserer Gesellschaft. Das macht auch vor Kultur und Wissenschaft nicht halt. Im Zuge der sog. Cancel Culture werden Denkmäler und Exponate attackiert und zerstört, Akademiker und Intellektuelle werden für ihre Äußerungen diffamiert, ausgegrenzt und zum Schweigen gebracht. Zentrales Anliegen des im Februar 2021 gegründeten „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ ist es, sich für ein freiheitliches Wissenschaftsklima einzusetzen. Museen, Gedenkstätten, Bibliotheken, Archive u.a. kulturbewahrende Einrichtungen sollten das Netzwerk und seine Ziele kennen.

Ausstellung verschoben, Kunstwerke nicht versicherbar

Im September 2020 ist der wegen seiner migrationskritischen Äußerungen umstrittene Maler Axel Krause (Jg. 1958) aus der Jubiläumsausstellung des Bundes Bildender Künstler in Leipzig (BBKL) ausgeladen worden. Da Vandalismus befürchtet wurde, habe sich kein Versicherer gefunden, der das Risiko tragen wollte. (Anm. 1) Während diese Meldung es nicht über den Leipziger Raum hinausgeschafft hat, hat eine andere Absage für großes Aufsehen gesorgt. Im Oktober 2020 haben führende Museen in Washington, Houston und London angekündigt, Ausstellungen mit Werken des Malers Philip Guston (1913-1980) auf 2024 zu verschieben. Als Grund werden „rassistische Aspekte“ genannt, womit Motive mit Ku-Klux-Klan-Mitgliedern gemeint sind. Gegen diese Entscheidung haben in einem offenen Brief weltweit mehr als 2.600 Künstler, Kuratoren, Literaten und Kritiker protestiert und die Verantwortlichen in den Museen scharf attackiert: „But the people who run our great institutions do not want trouble. They fear controversy. They lack faith in the intelligence of their audience. And they realize that to remind museum-goers of white supremacy today is not only to speak to them about the past, or events somewhere else. It is also to raise uncomfortable questions about museums themselves – about their class and racial foundations.“ (Anm. 2)

»Angst vor Kontroverse« – »Forschungsfreiheit in Gefahr«

Cancel Culture bezeichnet den systematischen Boykott von Personen oder Organisationen, denen beleidigende oder diskriminierende Aussagen bzw. Handlungen vorgeworfen werden. Die Praktik des Cancelns (engl.: to cancel = stornieren, aufheben), d.h. das Zurückziehen der Unterstützung für eine öffentliche Person oder Organisation, geht vielfach von den sozialen Medien aus. Obwohl das Phänomen offenbar immer mehr Bereiche erfasst, halten manche die Diskussion um Political Correctness, Identitätspolitik und Verbotskultur für überzogen und sehen kein allgemeines Bedrohungsszenario für die Meinungs- und Kunstfreiheit. (Anm. 3) Dagegen sieht sich das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit inzwischen veranlasst, die „Freiheit von Forschung und Lehre gegen ideologisch motivierte Einschränkungen zu verteidigen und zur Stärkung eines freiheitlichen Wissenschaftsklimas beizutragen.“ Laut Netzwerk werden Hochschulangehörige „erheblichem Druck ausgesetzt, sich bei der Wahrnehmung ihrer Forschungs- und Lehrfreiheit moralischen, politischen und ideologischen Beschränkungen und Vorgaben zu unterwerfen: Sowohl Hochschulangehörige als auch externe Aktivisten skandalisieren die Einladung missliebiger Gastredner, um Druck auf die einladenden Kolleginnen und Kollegen sowie die Leitungsebenen auszuüben. (…) Die Etikettierung als „umstritten“ stellt dabei den ersten Schritt der Ausgrenzung dar.“ Auch, um Betroffenen beizustehen, analysiert das Netzwerk „Gefährdungen der gelebten Wissenschaftsfreiheit, legt Fälle ihrer Einschränkung offen und entwickelt Gegenstrategien.“ (Anm. 4)

Die Webseite des Netzwerkes dokumentiert u.a. Beispiele bedrohter Wissenschaftsfreiheit aus dem deutschsprachigen Raum. Die lange Liste umfasst Angriffe nach a) Was darf erforscht und ausgesprochen werden? Was soll nicht gesagt werden? b) Wer darf sprechen? Wer soll an der wissenschaftlichen Kommunikation nicht teilnehmen können? sowie c) Wie soll gesprochen werden müssen? Das Netzwerk plant Debattenformate, die zu unterschiedlichen Themen möglichst viele Perspektiven zusammenbringen, die in einem offenen intellektuellen Klima ausgetauscht werden. Am 15./16. Juli 2021 soll in der Ruhr-Universität Bochum der Workshop „Wissenschaftsfreiheit und Cancelculture“ stattfinden. Ziel ist es, Kritiker, Opfer und Verteidiger der Cancelculture miteinander ins Gespräch zu bringen über rechtliche Grundlagen, Grenzen und aktuelle Probleme der Wissenschaftsfreiheit Bislang sind mehr als 400 Personen dem Netzwerk beigetreten, darunter überwiegend Professor/innen aus Geschichte, Jura, Philosophie, Physik, Politologie, Soziologie, Theologie, und Volkswirtschaft. Um Mitglied im Netzwerk zu werden, wird einstweilen eine abgeschlossene Promotion sowie eine wissenschaftliche Tätigkeit vorausgesetzt. Das trifft auf viele Mitarbeiter/innen in kulturbewahrenden Einrichtungen zu.

Berthold Schmitt, Herausgeber der Fachzeitschrift KulturBetrieb

Anm. 1: Vgl. Berthold Schmitt, Gesellschaftlich umstritten? Versichern wir nicht! Wer entscheidet, was ausgestellt wird?, in: KulturBetrieb zwei 2020, S. 64.
Anm. 2: Open Letter: On Philip Guston Now, in: The Brooklyn Rail; Quelle: brooklynrail.org/projects/on-philip-guston-now/; Abfrage: 08.04.2021
Anm. 3: Vgl. Andrea Geier, Wie Kampfbegriffe den Diskurs prägen, in: Deutschlandfunk Kultur, 24.09.2020; Quelle: www.deutschlandfunkkultur.de ; Abfrage: 08.04.2021
Anm. 4: Manifest / Aktivitäten, Februar 2021; Quelle: https://www.netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de/ueber-uns/manifest/ ; Abfrage: 08.04.2021

Dieser Beitrag wurde erstmals publiziert in KulturBetrieb, eins 2021, S. 58 f.