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Interesse an Hochkultur nimmt ab

Was aber machen die Leute in ihrer Freizeit?

„Kunst und Kultur formen unsere Identität und unser historisches Bewusstsein, vermitteln grundlegende Werte und fördern unser kreatives Handeln. Kunst und Kultur stärken den Zusammenhalt der Gesellschaft und die Demokratie. Deshalb ist die Förderung von Kunst und Kultur im Bund, in den Ländern und in den Kommunen so essenziell. Der aktuelle Kulturfinanzbericht ist dafür ein eindrucksvoller Beleg: Insgesamt gibt die öffentliche Hand jährlich rund 14,5 Milliarden Euro für Kunst und Kultur aus. Neben den Ländern (38,6 Prozent) und dem Bund (22,4 Prozent) tragen die Städte und Gemeinden mit 39,1 Prozent einen erheblichen Anteil an den Kulturausgaben der öffentlichen Hand.“ (Anm. 1) Und was wird dadurch bewirkt?

Nur etwa zehn Prozent der Bevölkerung besuchen regelmäßig Kulturbetriebe

Die Absicht von Bund, Ländern und Kommunen ist hehr und der finanzielle, technische und personelle Aufwand ist gewaltig, aber offenbar interessieren sich dennoch immer weniger Menschen für Museen, Theater u.a. kulturbewahrende Einrichtungen und deren Inhalte. 2017 hat eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach gezeigt, dass die Attraktivität von Kunst und Kultur abnimmt – selbst bei höher Gebildeten mit überdurchschnittlichem Einkommen. Insgesamt geben 40 Prozent aller Befragten an, sich für die Kunst- und Kulturszene zu interessieren, aber nur neun Prozent haben ein besonderes Interesse. (Anm. 2) Nach über 40 Jahren bleibt Hilmar Hoffmanns Dictum „Kultur für alle!“ eine Utopie: Es gibt zwar mehr Museen und mehr Besuche, aber nicht mehr Besucher. Schätzungen zufolge gehen nur acht bis zehn Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung regelmäßig in Museen und Kulturbetriebe. (Anm. 3) Auch der vieldiskutierte „Freie Eintritt“ ändert daran offenkundig nicht grundsätzlich etwas. (Anm. 4)

Wie aber nutzen die Menschen ihre freie Zeit?

Wenn tatsächlich nur rund zehn Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung das gewaltige Angebot an Kunst und Kultur nutzen, drängen sich vor allem zwei Fragen auf. Zum einen: Wie schaffen es die Nichtbesucher der allgegenwärtigen Präsenz von Kunst und Kultur auf der Straße und in den Medien zu entgehen? Überdruss oder Abstumpfung in Folge „kultureller Nötigung“? Und zum anderen: Was machen die „kulturfernen“ 90 Prozent der Bevölkerung in ihrer freien Zeit? Darauf gibt es Antworten, die auch Museen, Theater u.a. kulturbewahrende Einrichtungen kennen sollten, um ihre eigenen Angebote zu überprüfen und ggf. anzupassen. Seit 1982 untersucht die BAT-Stiftung für Zukunftsfragen das Freizeitverhalten der Bundesbürger. Im September 2022 ist der „Freizeit-Monitor 2022“ vorgestellt worden, für den über 3.000 Personen im Alter von 18 bis 74 Jahren repräsentativ zu ihrem Freizeitverhalten sowie zum Sonderthema „Stress in der Freizeit“ befragt worden sind. Zusammenfassend lässt sich sagen: Internet, TV, Musik und Social Media belegen die vorderen Ränge; dagegen werden Kunst- und Kultureinrichtungen nicht einmal erwähnt. (Anm. 5) Hier die Kernergebnisse der Befragung zu den beliebtesten regelmäßigen Freizeitaktivitäten der Deutschen:

• Internet überragt alles: 97 Prozent aller Bundesbürger sind regelmäßig (d.h. wenigstens einmal die Woche) online aktiv. Vor zehn Jahren waren es nur etwa halb so viele (2012: 53%).
• Auf Platz 2 liegt weiterhin das Fernsehen (86%), gefolgt von der Nutzung von PC, Laptop oder Tablet. • Social Media-Angebote wie Facebook, Instagram, LinkedIn, TikTok, Snapchat oder Twitter erreichen mit 67% erstmals die Top 10.
• Und die Offline-Nutzung? Seinen Gedanken nachgehen (71%), Reden (69%), Backen / Kochen (66%), gemeinsame Zeit mit Partner/in (66%), Telefonieren (64%) bzw. Faulenzen / Nichtstun (62%) und Kaffeetrinken / Kuchenessen (62%) rangieren auf den Plätzen 11 ff.
• Dagegen belegen außerhäusliche Aktivitäten hintere Positionen: Spazieren gehen und Aufenthalte in der Natur (beide 57%) tauchen erst auf den Positionen 17 bzw. 18 auf.
• Die Erholung rangiert ebenfalls weit hinten: Ausschlafen (56%) ist dabei wichtiger als aktiv etwas für die eigene Gesundheit zu tun (53%).

»In den eigenen vier Wänden, statt unter Leuten«

Im 40-Jahresvergleich zeigt sich zudem: „Zählten in den letzten Jahrzehnten stets auch mehrere außerhäusliche Aktivitäten zu den beliebtesten Beschäftigungen, finden aktuell die zehn häufigsten Aktivitäten in der Regel daheim statt. Der wissenschaftliche Leiter der Stiftung für Zukunftsfragen, Professor Dr. Ulrich Reinhardt, erklärt dies wie folgt: „Auch wenn es stetig immer mehr außerhäusliche Freizeitangebote gibt, werden sie deswegen nicht auch immer häufiger genutzt. Freizeit bleibt in erster Linie Erholungszeit – und diese wird zuhause verbracht. Zudem spielen aber auch eine älter werdende Gesellschaft, kleinere Familienstrukturen, ein sehr attraktives Medienangebot sowie die gegenwärtige Inflation und Unsicherheit eine Rolle“.

Was stresst die Menschen in ihrer freien Zeit?

„Nichts stresst die Bundesbürger in ihrer Freizeit so sehr, wie Zeit zu vergeuden – sei es beim Schlange stehen oder im Stau. Aber auch Mitmenschen stressen die Deutschen, indem sie einen stören, man die Gesellschaft von Menschen ertragen muss, die man nicht mag, oder einem schlichtweg zu wenig Zeit für sich oder andere bleibt. Gemeinsam ist all diesen Stressfaktoren, dass sie im Zeitvergleich abgenommen haben. Erklärt werden kann dies mit den Auswirkungen der Pandemie. Sie hat zu weniger Kontaktmöglichkeiten, weniger Angeboten und mehr individueller Zeit geführt. Mehr Stress als vor der Pandemie empfinden die Deutschen dabei vor allem durch gefühlte Verpflichtungen, ständige Erreichbarkeit sowie der Werbeflut im Internet, Fernsehen und Alltag.“

Gaming nimmt zu – auch bei der Generation 50+

Bestätigt werden die Ergebnisse der BAT-Stiftung durch die Entwicklung im Bereich der Computerspiele. Laut Digitalverband Bitkom haben im Jahr 2021 rund 50 Prozent der Deutschen zumindest hin und wieder das sog. Gaming genutzt, wobei sich die Häufigkeit der Nutzung zwischen Männern (53) und Frauen (47%) kaum unterscheidet. Und wer annimmt, das sei nur ein Phänomen unter Jugendlichen, der irrt: „Am meisten spielen nach wie vor die jüngeren Generationen: 81 Prozent sind es bei den 16- bis 29-Jährigen, 67 Prozent bei den 30- bis 49-Jährigen. Doch die Generationen über 50 holen auf: So spielen bereits 4 von 10 Personen im Alter zwischen 50 und 64 Jahren Video- oder Computerspiele (40 Prozent). 2020 war es noch ein Drittel (33 Prozent), 2019 nur ein Viertel (25 Prozent). Auch mehr Seniorinnen und Senioren ab 65 Jahren verbringen zumindest hin und wieder Zeit mit Gaming (18 Prozent; 2020: 13 Prozent).“ Als gesichert darf angenommen werden, dass die Corona-Pandemie diese Entwicklung spürbar beschleunigt und verstärkt hat. (Anm. 6)

Was könnte das für die Kulturbetriebe heißen? Weniger ist mehr!

Elektronische Medienangebote, die individuell zusammengestellt und nach dem ganz persönlichen Rhythmus jedes Einzelnen in den eigenen vier Wänden konsumiert bzw. genutzt werden können, werden wohl nicht zu toppen sein. Streaming-Dienste wie Disney+, Netflix, Amazon Prime & Co bewerben ihre Angebote als „Suchtpotenzial für den perfekten Feierabend“, von denen „man einfach nicht genug bekommen kann und sie immer und immer wieder sehen“ möchte, ob zu Hause oder unterwegs. (Anm. 7) Museen u.a. kulturbewahrende Einrichtungen sollten sich gar nicht erst darum bemühen, in diesen Wettbewerb zu gehen. Sie können vermutlich nur scheitern. Auch der oft zu hörende Spruch, wonach hierzulande mehr Menschen in die Museen gehen als zu den Spielen der ersten Fußballbundesliga, wirft eher ein schräges Licht auf die Kulturmacher …

Spätestens seit der Corona-Pandemie und den explodierenden Energiekosten mehren sich die Stimmen jener, die auch für Kulturbetriebe die Grenzen des Wachstums erreicht sehen und ein mitunter radikales Umdenken fordern. So drängt Hortensia Völckers, ehemals Künstlerische Direktorin der Kulturstiftung des Bundes, darauf, dass Kunstwerke und Kuratoren weniger fliegen. (Anm. 8) Christoph Thun-Hohenstein, ehemals Leiter des Museums für angewandte Kunst Wien, sieht unter dem Leitbegriff der „Klimamoderne“ in Blockbuster-Ausstellungen „Fehlentwicklungen“, die zu korrigieren seien und plädiert u.a. für den verstärkten Einsatz von Reproduktionen. (Anm. 9) Mit Blick auf die Ausstellung „Nimmersatt? Gesellschaft ohne Wachstum denken“ (27.11.2021-27.02.2022, Münster / W.) spitzt Hanno Rauterberg, Die ZEIT, die überfällige Forderung nach Reduktion so zu: „Rätselhaft bleibt es aber schon, weshalb die Museen vom Verzicht als »zukunftsfähiger Routine« schwärmen – und mit keiner Silbe danach fragen, was dergleichen für die eigene Arbeit hieße. Ungerührt lassen sie neue Kunstwerke fabrizieren, materialaufwendig, stromfressend. Von einer Ästhetik der Postwachstumsgesellschaft keine Spur. Hätte Münster ein Moratorium ausgerufen – keine Ankäufe mehr, keine Großausstellungen und möglichst wenige Besucher! – alle wären von der Verwegenheit der Ausstellung verblüfft gewesen. (…) Weniger wäre mehr gewesen.“ (Anm. 10) Tatsächlich ist aus der Tate Modern in London zu hören, man wolle künftig keine Blockbuster mehr veranstalten, um ein „klares Zeichen gegen umweltschädigenden Leihverkehr, rund um den Globus“ zu setzen. (Anm. 11) Ob es so kommt und ob es sogar Schule machen wird? Wohl eher nicht: Vom 10. Februar bis zum 4. Juni 2023 zeigt das Rijksmuseum in Amsterdam „VERMEER. Die größte Werkschau aller Zeiten“ mit 28 Werken, die man aus aller Welt zusammengeliehen hat.

Anm. 1: Kulturfinanzbericht 2022; Hrsg.: Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Wiesbaden 2022
Anm. 2: Steffen de Sombre, Bildungsbürgertum und Massenkultur; Institut für Demoskopie Allensbach / Allensbacher Markt- und Werbeträgeranalyse, AWA 2017; Quelle: https://www.ifd-allensbach.de/fileadmin/AWA/AWA_Praesentationen/2017/AWA_2017_deSombre_Bildung_Kultur.pdf ; Abfrage: 10.02.2023
Anm. 3: Vgl. Björn Thümler, Museumspolitik ist Standortpolitik, in: Matthias Dreyer und Rolf Wiese (Hrsg.), Den Museumsstandort entwickeln und stärken. Impulse, Strategien und Instrumente (Schriften des Freilichtmuseums am Kiekeberg; Bd. 100), Ehestorf 2020, S. 14.
Anm. 4: Vgl. Berthold Schmitt, Wie erreicht man die, die nicht kommen? Der Nicht-Besucher bleibt ein großes Rätsel, in vorliegender Ausgabe von KulturBetrieb.
Anm. 5: zum Folgenden vgl. BAT-Stiftung für Zukunftsfragen: Freizeit-Monitor 2022: Die beliebtesten Freizeitaktivitäten der Deutschen, 22.09.2022; Quelle: https://www.stiftungfuerzukunftsfragen.de/freizeit-monitor-2022/ ; Abfrage: 10.02.2023
Anm. 6: Halb Deutschland spielt Video- oder Computerspiele, in: Bitkom, 23.08.2021; Quelle: https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Halb-Deutschland-spielt-Video-oder-Computerspiele ; Abfrage: 10.02.2023
Anm. 7: Hätten Sie das gewusst?, Printanzeige von Disney+, in: ZEIT MAGAZIN, 12.02.2023, S. 13.
Anm. 8: Kulturstiftung des Bundes soll internationaler werden, in: dpa, 19.03.2022; Quelle: https://www.zeit.de/news/2022-03/19/kulturstiftung-des-bundes-soll-internationaler-werden?utm_referrer=https %3A%2F%2Fwww.google.com%2F; Abfrage: 10.02.2023
Anm. 9: Vgl. Mak-Direktor: „Müssen wir unbedingt die Originale zeigen?“, in: Der Standard, 03.03.2021; Quelle: https://www.derstandard.de/story/2000124594325/mak-direktor-muessen-wir-unbedingt-die-originale-zeigen ; Abfrage: 10.02.2023
Anm. 10: Mit dem Flammenwerfer. In Münster erzählen drei Ausstellungen vom Ende der Wachstumsgesellschaft. Die Kunst ist kämpferisch, ist klug. Und doch …, in: DIE ZEIT, Nr. 48, 25.11.2021, S. 63; vgl. Berthold Schmitt, Reduzieren! Nicht nur aus ökologischen Gründen!, in: KulturBetrieb, eins 2022, S. 36 f.
Anm. 11: Aus für Blockbuster, in: LINDINGER + SCHMID, 19.07.2022; Quelle: lindinger-schmid.de/aus-fuer-blockbuster/ ; Abfrage: 10.02.2023

Dieser Beitrag wurde erstmals publiziert in KulturBetrieb, eins 2023, S. 74-76.